PROSA

Gemeinsamkeiten

Als verkappter Intellektueller leide ich unter klaren Leidenschaften. Dazu gehört das Blättern in Zeitungen und alles was Buchstaben sichtbar macht. Meistens ist es Papier. Manchmal glänzend, sonst grau. Leidenschaften sind töricht. Stur und gemein. Sie überfallen den Menschen plötzlich, unerwartet. Schon im Kindesalter bemächtigen sie sich seiner. Mein Bruder zum Beispiel hatte die Leidenschaft, sich immer umzudrehen. Beim Gehen. Wie oft mussten meine Mutter oder ein Verwandter, vielleicht sogar mein Vater oder ich zur Hilfe eilen, weil sich ihm weit vom Blickfeld Hindernisse in den Weg stellten. Mein bester Freund - ich lernte ihn schon einige Stunden nach der Geburt kennen -, also der Nachbarssohn, war des öfteren Opfer von Leidenschaften. Kaum sah er mich mit einem neuen Spielzeug, schrie er die Menschheit zusammen, um es zu bekommen. Umzingelt von mehreren vorwurfvollen Gesichtern gab ich nach. Mit der Zeit gab es fast nichts Spielbares mehr, doch ich gebar eine Idee: meine Mutter war arm und Einkaufen ein Gräuel. Ich sammelte Papier, zerriss es in Fetzen und mit Hilfe meiner Phantasie zeugte ich daraus Menschen, Autos, Häuser. Kurz: das Leben. In dieser Zeit machten sich viele Beobachter Sorgen um meinen psychischen Zustand. Nur meiner Mutter gefiel diese Eigenart. Da ihr Einkaufen ein Gräuel war, besser das Geldausgeben, wurde ihr plötzlich bewusst, dass sie keine Spielzeuge mehr zu erstehen brauchte. Der Nachbar übrigens auch nicht. Er hatte meins. Mit Vergehen der Jahre entwuchs ich dem Kindesalter. Die Papierleidenschaft verwandelte sich in die des Papierlesens und vermischte sich mit der ominösen Leidenschaft des Sexuellen. So kam es öfter, dass ich beim Lesen schielte. Über den Zeitungsrand hinweg. Hübsche Frauen betrachtend. Da ich immer gieriger nach weiblichen Erscheinungen wurde, fiel mir ein, dass Zeitungslesen der Keim des Intellektuellen ist, und da diese in Cafés lungern und in Cafés Frauen mitlungern, ging ich auf die Suche und wie die meisten Suchenden fand ich... sie. Uns verband die gleiche Leidenschaft. Tagtäglich zerbarsten die Seiten unter unseren Händen. Die Kraft des Intellektes sog diese erotischen Satzgebilde durch die Augen. Geburten einer Sprache. Schwarz auf Weiß konstruiert unter Zuhilfenahme des Alphabets. Göttliches Gefüge lautlosen Dialogs. Lautlos war ich auch. Beim Starren auf Weiblich-Erotisches. Ihre Schönheit betrübte meine Sinne und zwang mich zum Verrat: ich leugnete das Lesen. Diese Gemeinsamkeit, die wir teilten, ihr schlürfen an den Buchstaben, an der Tasse. Es heißt, dass Gemeinsamkeiten eine Beziehung begründen. Paare entscheiden sich fürs Miteinander, weil sie Ähnliches teilen. Vermählungen werden eingegangen, weil man sich das Teilen des Gemeinsamen verspricht. Bis zum danach. So kam es, dass ich dieser Maxime folgend glücklich wurde. Eine Zeitlang. Bis sie eines Tages und Jahre danach nicht mehr am Tisch gegenüber saß. Sie hatte sicherlich geheiratet oder die Seiten gewechselt. Vielleicht als Journalistin. Vorwürfe quälen mich seitdem. Aber was hätte ich machen sollen? Aufstehen, zu ihr hinüber laufen und Ihr sagen: "Hallo, Madame, ich erfahre seit geraumer Zeit, dass wir eine Gemeinsamkeit teilen und dies bestimmt ein Pilaster einer eventuellen Beziehung sein könnte. Unter uns, mit Verlaub, Gespenster können nicht reden und wir sehen sie nicht. Aber Sie sehe ich und mit Ihnen kann man auch reden..." Nie und nimmer hätte ich dies tun können. Ich war zum Zeitungslesen da.

© Antonino Marcello

Moderne deutsche unbekannte Prosa